Im Geiste des großen Görres
Unter diesem Titel verfasste Heinrich Wolf seine Chronik des Katholischen Lesevereins aus Anlass des hundertjährigen Bestehens des Vereins. Sie gibt einen guten Einblick in die Geschehnisse jener Zeit, die zur Gründung unseres Vereins in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts geführt haben.
Als am 20. November 1837 preußische Truppen das erzbischöfliche Palais in Köln umstellten und Oberpräsident von Bodelschwingh unangemeldet in das Zimmer des Kirchenfürsten drang, um Clemens August von Droste-Vischering zu verhaften und auf die Festung Minden zu bringen, ging ein Sturm der Entrüstung durch die deutschen Lande. Der alte Görres vernahm mit Erschütterung die Worte des Heiligen Vaters, der in einem Schreiben an alle Bischöfe der Welt gegen den Schritt Berlins protestierte. Wie einen Donnerschlag hörte die Welt die wuchtigen Anklagen seines „Athanasius“, einer Schrift, die nochmals die gewaltige innere Kraft des großen Sohnes unserer Stadt spüren ließ.
In diese Zeit reichen die geistigen Wurzeln es „Katholischen Lesevereins“ zurück. Aber der Kölner Kirchenstreit war nur ein äußeres Zeichen der tiefgehenden Auseinandersetzungen um die Position der katholischen Kirche in einer veränderten Welt. Starrem konservativem Denken stellte sich der junge Liberalismus gegenüber, der deutsche Katholizismus war in eine Entscheidung zwischen beiden Kräften gezwungen, um seinen eigenen über die Zeitlichkeit hinausweisenden Auftrag erfüllen zu können. Jahrzehnte eines heftigen inneren Ringens begannen, in das auch der Leseverein einbezogen wurde. Es hieße seine Bedeutung verkennen, wollte man in ihm nur eine spätbiedermeierliche Stätte zur Pflege der bürgerlichen Gemütlichkeit sehen. Der „Athanasius“ des großen Görres fand auch bei den Koblenzern ein begeistertes Echo. Männer aller Stände fanden sich in der Erbitterung über den Schritt der preußischen Regierung zusammen. Sie kamen in der „Donnerstagsgesellschaft“ zusammen, die ihrerseits aus einer „Dienstagsgesellschaft“ hervorgegangen war. Man besprach die politischen Ereignisse, ohne dabei allerdings auch einen guten Schoppen zu verschmähen. Es waren eben Rheinländer, die hier tagten. Die „Dienstagsgesellschaft“ fand sich nach der Flucht von Joseph Görres im Jahre 1819 nach Straßburg bei der Wirtin Thibus im „Vater Rhein“, damals Neustadt, zusammen. Die Seele dieser Gesellschaft war der Stadtrat Hermann Joseph Dietz, zu ihrem Kreis gehörten Clemens Brentano, Stramberg, bekannt als Verfasser des „Rheinischen Antiquarius“, Anwalt Adams I, der Maler M. Müller, Settegast und andere mehr. Meist waren es Angehörige der jüngeren Generation, das Alter hielt sich noch zurück. Eine bemerkenswerte Persönlichkeit unter ihnen war auch K. H. Burkart, den der Oberpräsident für den Verfasser des beanstandeten Totenzettels für Joseph Görres hielt.
Als Dietz und sein Kreis von der Lebensbühne abgetreten waren, setzten J. N. Longard, Anwalt Adams, von Thimus, Dr. med. Duhr und andere ihr Werk fort und setzten sich für die katholischen Belange ein. Man sprach in diesem Kreis oft von der notwendigen Gründung eines Vereins, der auch eine gesellige Komponente haben müsse, wagte sich aber nicht so recht an eine Lösung. Mehrere Lehrer waren es nun, die die Sache tatkräftig in die Hand nahmen. So kamen dann am zweiten Weihnachtstag des Jahres 1862 in den Abendstunden in der Wohnung des Lehrers Smits im Schulhaus von St. Castor die Lehrer Smits und Richartz und der Kaufmann Schweppenhäuser zusammen, um über die Gründung eines Vereins zu beraten. Das handschriftliche Original der Niederschrift über diese Zusammenkunft ist noch erhalten und befindet sich im Koblenzer Stadtarchiv in der Stadtbücherei. Diese Männer sahen mit politischem Weitblick, wie sich dunkle Wolken türmten und sich ein neuer Kampf gegen die Kirche ankündigte. Sie nahmen Kontakt mit der in der Schlinkschen Wirtschaft tagenden „Donnerstagsgesellschaft“ auf. Advokat-Anwalt Adams II entwarf ein kurzes Programm und die notwendigen Statuten und übergab sie Lehrer Richartz, der sie seinerseits seinen Freunden überbrachte. Diese trafen sich sonntagabends bei der Witwe Grünewald in der Löhrstraße 51. Nach diesen Vorbesprechungen konnte am 2. Januar 1863 im Lokal Grünewald die eigentliche Gründung des Katholischen Lesevereins durch 12 angesehene Bürger erfolgen. Der später so aktive Dr. Duhr „wollte auch erscheinen, war aber plötzlich dienstlich verhindert“. Man beriet ein vorläufiges Statut, das die Versammelten als provisorischer Vorstand am 4. Januar einem größeren Gremium zur Genehmigung vorlegten.
Am 11. Januar erfolgten dann bei einer Generalversammlung im gleichen Lokal die endgültige Gründung des Vereins und die Wahl eines Vorstandes. Auf der ersten Seite des Protokollbuches steht zu lesen: „Im Namen Gottes, dessen Segen über unserem Bunde ruhen, der unsere Beratungen leiten, unseren Entschließungen das Gedeihen geben wolle!“ Ein ernstes Grundmotiv war damit angeschlagen. Den Gründern mangelte es nicht an Tatkraft, der Vorstand wurde sofort beauftragt, bis zur Mietung eines Gesellschaftshauses Mitglieder aufzunehmen. 56 Koblenzer Bürger traten dem Verein schon am Abend des Gründungstages bei; ihre Namen gehören auch heute noch zu den angesehensten der Stadt .
In den bald gedruckten Statuten hieß es kurz und bündig: „Der Katholische Leseverein ist ein Verein Gleichgesinnter zu gemeinsamer Benutzung guter Lektüre und geselliger Erholung“. Vorsichtig war im Hinblick auf die Zeitumstände hinzugefügt; „Er bezweckt nicht die Einwirkung in öffentliche Angelegenheiten“. Neue Mitglieder sollten zuerst vom Vorstand, dann von der Generalversammlung „ballotiert“ werden. Man wollte keinen im Verein haben, der nicht innerlich dazugehörte. Schon die Gründungsberatungen ließen erkennen, dass man keinen „Schoppenverein“ anstrebte, sondern zu einem Sammelpunkt des katholischen Lebens in Koblenz werden wollte. Vor allem war man auch bemüht, das „Eindringen fremdartiger Elemente zu unterbinden“. Die Zeichen eines neuen Kirchenkampfes kündeten sich an.
Unter dem Vorsitz des Advokat-Anwalts Franz Adams II begann der Leseverein seine Tätigkeit. Am 18. Januar fand bereits die zweite Generalversammlung statt, bei der der Vorstand über die Schaffung eines Vereinslokals berichtete. Man mietete das Haus des Fuhrunternehmers Meder, Löhrstraße 61, für jährlich 600 Taler. An die Mitglieder, deren Zahl inzwischen auf 76 angewachsen war, wurden Aktien von einem Taler ausgegeben. Unter dem 31. Januar 1863 berichtete die „Coblenzer Zeitung“ über das erste Stiftungsfest. In dem Bericht heißt es u.a.: „Seit dem Beginne dieses Jahres hat sich dahier eine Gesellschaft von Bürgern gebildet, welche unter dem Namen „Katholischer Leseverein“ Gleichgesinnten einen Versammlungsort zu guter Lektüre und geselliger Unterhaltung bieten soll. –
Die Eröffnung der neueingerichteten Gesellschaftslokale fand am verflossenen Sonntag durch ein Festessen von mehr als 150 Personen statt. Der Festsaal war mit den Bildnissen des Erzbischofs Clemens August und der Koblenzer Bürger J. Joseph von Görres und Hermann Joseph Dietz geschmückt. Fröhliche Lieder, ernste und heitere Reden hielten die Gesellschaft lange in freudigster Stimmung zusammen. Die Anhänglichkeit an den gemeinsamen Glauben, das Streben nach der Erhaltung der echten rheinischen Sitte und die ehrende Anerkennung der fleißigen Arbeit jedes Standes durchdrangen gleichmäßig alle Mitglieder der zahlreichen Versammlung; sie bildeten den Boden, auf dem sich alle zusammenfanden, sie bildeten das Band, welches Alle umschlang und fester aneinander schloss.“
Der Berichterstatter von anno 1863 hatte ohne Zweifel die Ziele des Vereins richtig erkannt und dargestellt. Aber die Mitglieder ruhten nicht. Als am 1. Februar die dritte Generalversammlung stattfand, zählte der Verein bereits 152 Mitglieder und hatte einen Fond, von dem der erste Wein gekauft werden konnte. Es war ein Ohm Erdener. Jedes Mitglied zahlte jetzt ein Eintrittsgeld von zwei Talern und einen monatlichen Beitrag von fünf Silbergroschen. Die vierte Generalversammlung am 8. Februar 1863 beschloss die Gründung einer Spar- und Darlehenskasse. Schultze-Delitzsch war hierbei das Vorbild. 1866 betrug die Mitgliederzahl bereits 609. Mehr als die Hälfte von ihnen waren Handwerker, es folgten 106 Kaufleute, 62 mittlere und untere Beamte, 34 Geistliche, 7 Anwälte und Notare, 7 Richter, 7 Landwirte, 6 Ärzte, 4 Apotheker, 4 Arbeiter, 4 Architekten, 3 Oberlehrer und ein Regierungsassessor a.D. Kein einziger höherer Beamter der Regierung oder des Oberpräsidiums und kein Offizier wurde damals Mitglied.
Schon in den ersten Jahren des Bestehens nahm der Leseverein Verbindung mit gleichartigen Gesellschaften in anderen Städten auf. So war man mit Abordnungen auf den alljährlichen Generalversammlungen der katholischen Vereine Deutschlands in Frankfurt (1863), Würzburg (1864) und Trier (1865) vertreten. Der 1. Vorsitzende, Adams II, wird wiederholt in den Berichten neben Adolf Kolping, Prälat Thissen und August Reichensperger genannt. In Würzburg regte Adams II die Gründung katholisch-geselliger Vereine in möglichst allen Städten an und hatte damit großen Erfolg. Es kam zu Gründungen in Würzburg, Augsburg, Luxemburg, St. Wendel und Wissen.
Auf die Dauer ließ sich aber auch die Politik nicht ganz aus dem Vereinsleben verbannen. Bei den Gemeinderatswahlen Ende 1863 war Adams II als Kandidat der 2. Klasse aufgestellt worden. Zu einer Urwählerversammlung war er mit einer beträchtlichen Anzahl von Mitgliedern des Katholischen Lesevereins erschienen. Adams ergriff dabei das Wort und betonte, dass er und seine Freunde sich als „wahrhaft liberal“ bezeichnen könnten, da sie die Freiheit überall, die Freiheit für alle und jeden wollten. Auf dieser Basis sei ein Zusammengehen der einzelnen freisinnigen Parteien möglich, ja wünschenswert.
Das Jahr 1864 brachte ein Ereignis, das in der Vereinsgeschichte noch lange nachgeklungen ist. Am 19. Juni 1864 fanden sich die Mitglieder mit Angehörigen und Freunden zu einer großen Schifffahrt zum Niederwald zusammen. Die „Coblenzer Zeitung“ veröffentlichte darüber einen langen Bericht, der erkennen ließ, wie starke Eindrücke eine solche Fahrt damals auf die Menschen machte.
Da die Mitgliederzahl regelmäßig und stetig wuchs, sah sich der Vorstand ermuntert, den Bau eines eigenen Vereinshauses zu planen. Das Heim sollte „Im Herzen der Stadt“ liegen. Am 6. September 1864 wurde der Beschluss gefasst, das Haus des Waffen- und Metallwarenhändlers Paul Schäffer in der Firmungstraße zu erwerben. (Zunächst war der Kauf des Hontheimschen Hauses in der Neustadt vorgesehen.) Den Plan für den Neubau entwarf der Stadtbaumeister Nebel. Eine eigene Baukommission konnte die Planungen so beschleunigen, dass schon am 24. April 1865 die feierliche Grundsteinlegung in der Firmungstraße erfolgte. Das Aufsehen in der Bürgerschaft war groß, und noch heute ist es bewundernswert, wie schnell und zügig der kaum gegründete Verein ein solches Projekt verwirklichte. Schon damals bestand der Wunsch, das neue Vereinshaus möge zu einem Heim für alle katholischen Vereine der Stadt werden.
Der Tag der Grundsteinlegung begann mit einem feierlichen Amt in der nahen Kirche zum hl. Johannes (Jesuiten), das Pastor Lorenzi von Liebfrauen zelebrierte. Der noch öde Bauplatz, der inmitten einer blühenden Flur lag, war durch Fahnen, grüne Bäume und Sträucher zu einem wahren Festplatz umgestaltet. Dechant Krementz hielt die Festansprache. Auch Advokat-Anwalt Adams II ergriff das Wort, wobei er u.a. betonte: „Alle die sind unsere Gesinnungsgenossen, denen es wahrhaftig am Herzen liegt, dass der katholische Glauben und die rheinische Sitte hierzulande erhalten bleiben.“ In den Grundstein eingemauert wurden sodann eine Urkunde, auf Pergament geschrieben, eine Münze mit dem Bild des Hl. Vaters Pius IX., ein Krönungstaler mit den Bildnissen des Landesherrn und der Königin Augusta und einen Huldigungstaler mit dem Bild König Friedrich Wilhelm IV. Adams II betonte bei der Grundsteinlegung auch: „Wir legen hinzu ein gutes Bild unserer lieben Vaterstadt Coblenz, wie sie heute ist, damit unsere Nachkommen, wenn sie vielleicht nach mehr als tausend Jahren diesen Grundstein öffnen, nicht nur lesen, was wir gewollt, sondern auch sehen, wie Coblenz im Jahre 1865 gewesen ist.“ In den Grundstein kamen aber auch je ein Schoppen Rhein- und Moselwein.
Für den Bau des Vereinshauses war ein Kapital von 42 000 Talern erforderlich. Die Mitglieder vereinigten sich zum größten Teil zu einem Sparverein, der die erforderliche Summe in monatlichen Raten im Laufe von 10 Jahren aufbringen sollte. Diese Regelung fand allgemeine Zustimmung. Kaum acht Monate waren seit der Grundsteinlegung vergangen, als die kirchliche Einsegnung und Eröffnung der unteren Gesellschaftsräume erfolgen konnte. Wieder sprachen Dechant Krementz und Advokat-Anwalt Adams II, wobei letzterer erklärte: „Dieses Haus steht in Gottes Hand, zum Joseph Görres ist’s genannt.“ Bei dieser Gelegenheit wurde auch der Beschluss gefasst, als bleibende Erinnerung an die Erbauung des Hauses alljährlich Sammlungen durchzuführen und am Christfest sechs Knaben des Waisenhauses Kemperhof ein Geldgeschenk als verzinsliche Anlage auf der Sparkasse zu hinterlegen. Eine sofortige Kollekte erbrachte 40 Taler.
1866 war der Bau dann fertig. Die ganze Stadt wurde Zeuge der Einweihung des Hauses, die am 28. Januar erfolgte. Drei Jahre hatte der Verein bestanden – und schon verfügte er über ein solches Haus! Wieder war es Advokat-Anwalt Adams II, der zahlreiche Gäste begrüßen und ein Glückwunschschreiben des Trierer Oberhirten, des Bischofs Leopold Pelldram, vorlesen konnte. Aber auch die Tochter des großen Görres hatte geschrieben, und ihr Brief verdient im Wortlaut festgehalten zu werden:
Verehrter Herr Präsident!
Mit großer Rührung habe ich, verehrter Herr, Ihr Schreiben gelesen. Dasselbe musste für mich gerade in diesen Tagen um so ergreifender sein, da die Erinnerung an die letzten Stunden und Worte des Verstorbenen dadurch mir wieder so recht vor sie Seele traten. Und wenn vor achtzehn Jahren, gleichsam vom Jenseits aus, der selige Vater den Untergang jener Gesinnung, die Sie, mein Herr, so kräftig vertreten, so schmerzlich beklagte, und an diesen Untergang der Gesinnung auch den Untergang des deutschen Volkes geknüpft sah, und wenn derselbe alsdann sagte: ihm sei nur die Aufgabe gestellt, sein Volk wieder in die Einheit mit Gott zurückzuführen, so werden Sie mir sicherlich nicht verargen, dass Ihr Schreiben in mir den frommen freudigen Glauben erregte: es sei dem Seligen bereits gelungen, am Throne Gottes für das Heil seines Volkes zu wirken, und so sei denn Ihr Haus wirklich im wahren Sinne des Wortes das Haus von Joseph Görres.
Möge Gott geben, dass die Räume Ihres stattlichen Hauses bald zu enge werden, um alle Diejenigen zu fassen, die in gleicher Gesinnung dort vereinigt sind, um für ihr Heil und das Heil ihres Vaterlandes zu wirken!
Mit aller Hochachtung
Ihre ergebenste M. Görres
München, den 26. Januar 1866.
Gemeinsam betrat man dann den großen Saal, der, gemessen an den damaligen Zeitumständen, einen überwältigenden Eindruck machte. Ringsum an den Wänden sah man die Wappen all der Städte, in denen schon Lesevereine bestanden, sie umgaben die Wappen des päpstlichen Stuhles, Kurtriers und Preußens. Über 400 Personen nahmen an dem anschließenden Festessen teil. In der Festrede des 1. Vorsitzenden, noch immer Adams II, klang aber schon die Sorge um den bedrohten Kirchenstaat, das Patrimonium Petri, auf, und in Görres feierte man den mutigen Verteidiger der Freiheit der Kirche. Zahlreiche Glückwunschtelegramme trafen aus den verschiedensten deutschen Städten ein.
Der „Katholische Leseverein“ war durch seine machtvolle Entfaltung zu einem wichtigen Faktor des öffentlichen Lebens geworden. Die Behörden wurden auf ihn aufmerksam, nicht nur im wohlwollenden Sinne. Am 5. August 1865 schrieb der Polizeidirektor in einem Bericht: „Eine große Bedeutung in sozialer und politischer Hinsicht ist diesem Verein, der gegenwärtig schon 500 Mitglieder zählt, nicht abzusprechen, weil er durch geringes Eintrittsgeld dem Bürger- und namentlich dem Handwerkerstande die Teilnahme ermöglicht und durch Verabreichung billiger Nahrungsmittel und angemessener Lektüre diese Klasse der Bevölkerung von dem gewöhnlichen Wirtshausbesuche abhält, auf der anderen Seite aber immerhin seine Kräfte zu einer gemeinsamen Aktion konzentrieren kann.“ Das behördliche Misstrauen war geweckt. Als der Kulturkampf ausbrach, wurde der Leseverein tatsächlich zu einem Zentrum aller Bestrebungen im Kampf um die Freiheit der Kirche. Am 10. August 1875 wurde der Verein polizeilich geschlossen, weil in seinen Räumen zur „Besprechung öffentlicher Angelegenheiten“ Volksversammlungen stattgefunden hätten. Auch sei im Anschluss an den Verein die „Koblenzer Volkszeitung“ gegründet und gefördert worden.
Über das Verhältnis zwischen Katholischem Leseverein und „Koblenzer Volkszeitung“ war die Polizeidirektion durch nicht unwahrscheinliche Gerüchte informiert. Danach hatte der Verein aus seiner Spar- und Darlehnskasse Mittel an die Zeitung hergegeben. Auch sollte der Redakteur frei im Leseverein wohnen. Schließlich tagte, so mutmaßte die Behörde, in einem Konferenzzimmer des Vereins täglich die Redaktionsleitung mit den Herren Dr. Duhr, Helle, Dr. Frank, Wirt Grünewald, Pfarrer Weißbrodt (St. Kastor) und Pastor Roderich (Liebfrauen). Die „Koblenzer Volkszeitung“ verlegte daraufhin vorsichtigerweise ihr Geschäftszimmer in die Kornpfortstraße. Der Vereinsvorstand musste die Liste der Mitglieder und seine Akten dem zuständigen Landrat und Polizeidirektor übergeben, der seinerseits die Namen derer an die Regierung weiterleitete, die dort von Interesse sein könnten. Dabei stellte man fest, dass auch hochgestellte Persönlichkeiten wie Kammerpräsident Dr. Settegast, Friedensrichter Mohr und Kreisgerichtsrat Gescher dem Verein angehörten. Das Vereinshaus blieb drei Monate versiegelt und der Vorstand musste wegen „politischer Betätigung und Verbrüderung mit anderen Vereinen“ 300 Taler Strafe zahlen.
Nach drei Monaten aber setzte die Strafkammer des Koblenzer Landgerichts den Vorstand außer Verfolgung und hob die Schließung des „Görresbaues“ auf. Das Überwachungsrecht der Polizeibehörde blieb aber bestehen. Aus Anlass der feierlichen Wiedereröffnung wurde in St. Castor ein Dankamt gehalten. Gleichzeitig feierte der Verein sein 12. Stiftungsfest. Mit der Beendigung des Kulturkampfes fielen für den Verein die diskriminierenden Einschränkungen.
Einen Glanzpunkt in der Geschichte des Vereins bildete das Jahr 1876. Am 24. Januar dieses Jahres wurde in seinen Räumen aus Anlass des 100. Geburtstags von Joseph Görres die „Görres-Gesellschaft zur Pflege der Wissenschaft im katholischen Deutschland“ gegründet. Advokat-Anwalt Eduard Müller hielt bei der Eröffnung die Begrüßungsansprache und feierte Görres als Streiter für Wahrheit, Freiheit und Recht. Das Kernwort seiner Ansprache verdient auch heute noch erwähnt zu werden: „Seit Clemens August litt und Görres stritt, war man wieder stolz, katholisch zu sein!“
Zum 20. Stiftungsfest 1883 wurde der große Saal gründlich renoviert. Ein Chronist schrieb damals: „In seiner Vollendung wird der Saal ein Meisterwerk decorativer Kunst genannt werden müssen.“ Die an den Wänden angebrachten Sprüche entstammten den Schriften von Görres. Beim 25. Stiftungsfest galt das Hoch der Festversammlung zwei Ehrenmitgliedern des Vereins: Erzbischof Krementz und Ludwig Windthorst.
Eine bedeutende Erweiterung erfuhr der Leseverein in den Jahren 1898/99, als man den Gebäudetrakt in der soeben fertiggestellten Eltzerhofstraße errichtete. Die Grundstücke waren bereits 1891 erworben worden. Eine neuzeitliche Kegelbahn im Hof und eine Terrasse darüber schlossen die Bauarbeiten ab.
Nach Anlegung des Vereinsregisters beim Amtsgericht Koblenz wurde der Katholische Leseverein am 24. Januar 1900 unter Nr. 2 dort eingetragen. Zugleich wurden die Satzungen entsprechend dem Beschluss der Mitgliederversammlung vom 10. Dezember 1899 den Bestimmungen des neuen Vereinsrechts angepasst.
Am Sonntag, dem 19. Januar 1913, beging der Verein mit großem Gepränge sein 50. Stiftungsfest. Es begann mit einem Pontifikalamt in St. Kastor und gipfelte am Abend in einer glanzvollen Festfeier, in deren Mittelpunkt eine Treuekundgebung zu dem anwesenden Bischof Michael Felix Korum stand, der auch die Festrede hielt.
Die Vereinsgeschichte verlief jetzt in ruhigen Bahnen. In der Hauptversammlung des Jahres 1920 wurde die Anregung zum Zusammenschluss aller gleichgearteten Vereine gegeben, die zur Gründung des Verbandes „Omnes unum“ führte. Nach dem Ersten Weltkrieg setzte ein solcher Zustrom an Mitgliedern ein, dass die Neuaufnahme zeitweise gesperrt werden musste. 1924 zählte der Verein fast 1600 Mitglieder. Schwere Schäden erlitt das Vereinshaus durch ein Großfeuer im Jahre 1927.
Als 1933 eine wesentliche Veränderung der politischen Verhältnisse eintrat, begann auch für den „Katholischen Leseverein“ wieder eine kritische Zeit. Dem Druck der Nationalsozialisten nachgebend, musste man sich 1937 in „Koblenzer Leseverein“ umbenennen. Viele Mitglieder verließen den Verein, um nicht neuen Satzungen folgen zu müssen, andere blieben, um die Entwicklung abzuwarten und im rechten Augenblick wieder bei der Hand zu sein. Die Hauptversammlungen waren meist nicht beschlussfähig, aber instinktiv war man sich bewusst, dass auch dieser Sturm vorübergehen musste. Und er ging vorüber. 1939 wurde das Vereinsvermögen der sogenannten Organisation „Kraft durch Freude“ zugewiesen, das Protokollbuch weist von diesem Tage ab bis zum Zusammenbruch keine Eintragungen mehr aus. Am 28. Dezember 1944 wurde das Haus Eltzerhofstraße 6 a bis auf die Grundmauern zerstört, und auch der Görresbau erlitt erhebliche Schäden.
Das Ende des Krieges und damit des Nazismus brachte auch für den Leseverein einen neuen Beginn. Im Protokollbuch heißt es unter dem 6. Juni 1946: „Heute fand nach der Befreiung vom Naziterror die 1. Mitglieder-Generalversammlung des wieder mit dem Prädikat „katholischer“ geschmückten Lesevereins statt.“ Treuhänder war Rechtsanwalt Henrich, dem Ausschuss gehörten die Mitglieder Friesner, Jechel, Keil, Linowski, Stein, Stock und Watrinet an. Als Ehrenmitglieder wirkten beim Wiederaufbau des Vereins Prälat Albert Homscheid und Anton Kilzer mit. In den ersten Vorstand wurden (nach Höhe der Stimmen) die Mitglieder Schnorbach, Dr. Chardon, Watrinet, Stein, Keil, Jechel, Geisbüsch, Stock, Linowski und Friesner gewählt. Eine Zeit harten Aufbaus begann. Am 3. Januar 1947 zählte der Verein bereits wieder 481 Mitglieder.
Eine interessante Phase erlebte der Verein, als am 21. August 1947 der Landtag von Rheinland-Pfalz den großen Saal sowie weitere Räumlichkeiten des Hauses mietete, um hier seine Plenar- und Ausschusssitzungen durchzuführen. Bis zur Übersiedlung nach Mainz vollzog sich im „Görresbau“ eine wichtige Phase rheinland-pfälzischer Landesgeschichte. Zum 90. Stiftungsfest im Jahre 1953 konnte Ehrendomherr Dechant Homscheid, der den Weg des Lesevereins lange begleitet hatte, das Geleitwort zur Festschrift verfassen. Was er damals schrieb, gilt auch heute noch, auch nachdem der Verein wieder festen Grund in der Koblenzer Bürgerschaft gefunden hat und aus dem Leben der Stadt und ihrer Pfarreien nicht mehr wegzudenken ist:
„Tiefste Lebenskraft, die sich auswirken muß bei aller Lebensgestaltung, ist die Liebe, die im Mitmenschen den Bruder sieht und das Ebenbild Gottes. Auch diese Liebe war ein leuchtender Stern im Wirken des Katholischen Lesevereins und soll es bleiben in einer notvollen Zukunft.“