Warum lässt Gott das zu? – Prof. Dr. Heribert Niederschlag, SAC

Der Vorsitzende des KLV, Dr. E. Thul, konnte auch in diesem Jahr zahlreiche Mitglieder und Gäste zur Fastenbesinnung begrüßen.
 

 

Der Referent hat uns freundlicherweise eine Kurzfassung seines Vortrages zur Verfügung gestellt:

 

Warum lässt Gott das zu?

 

Im Jahr 1968 starb in Paris der damalige Erzbischof Kardinal Pierre Veuillot im Alter von 55 Jahren nach einem schrecklichen, äußerst qualvollen Leiden. Vor seinem Tod hat er einem Freund, dem Bischof Lallier folgendes anvertraut: „Wir verstehen es meisterhaft, schöne Sätze übers Leiden zu machen. Auch ich habe übers Leiden in ergreifenden Worten gepredigt. Sagen Sie den Priestern, sie sollen lieber schweigen; wir wissen nämlich nicht, was Leiden heißt. Als ich dies einsehen musste, habe ich nur noch geweint.“

Auch wenn es vermessen scheint, auf die Frage nach dem Sinn des Leidens eine Antwort zu suchen, müssen wir uns ihr stellen. Wir kommen nicht los von der Frage, die das Leiden stellt. Auch der, der sich weigert, angesichts des Übermaßes an Leiden, an einen guten Gott zu glauben, hat keine befriedigende Lösung gefunden. Wer sich enttäuscht von Gott abwendet, erspart sich die quälende Frage: Warum lässt Gott das zu? Aber er verliert auch die Hoffnung, dass Gott ihm einmal Antwort geben wird.

Wenn Gott allmächtig und allgütig ist, warum dann das Leid in der Welt? Hans Jonas kann für sich keine befriedigende Antwort finden, es sei denn, die beiden Attribute „allmächtig und allgütig“ werden ergänzt durch die Unerforschlichkeit Gottes. Nur von einem gänzlich unverstehbaren Gott kann gesagt werden, dass er zugleich absolut gut und absolut allmächtig ist und doch die Welt duldet, wie sie ist … Wenn allmächtig und allgütig, dann aber unbegreiflich. Damit bestätigt Hans Jonas, was Dietrich Bonhoeffer auf die knappe Formel bringt: „Glauben heißt, die Unbegreiflichkeit ein Leben lang aushalten.“

Alle biblischen und theologischen Erklärungsversuche greifen zu kurz. Der Verweis auf die Freiheit des Menschen erklärt zwar, dass nicht Gott für das Leid verantwortlich ist, das Menschen einander antun, aber die Frage nach dem Leiden in der untermenschlichen Natur bleibt unbeantwortet. Bevor es Menschen auf der Erde gab, haben Tiere gelitten. Und es gibt viel Leid in der Welt, an dem der Mensch nicht Schuld ist: z. B. Naturkatastrophen. Nur ein Teil des Leides in der Welt geht auf den Menschen zurück, der es mutwillig und rücksichtslos anderen zufügt, indem er seine Freiheit missbraucht.

Auch der Verweis, Leid sei Strafe für die Schuld, verfängt nicht. Die Ansicht, wer Schlechtes tue, dem ergehe es auch schlecht, wird durch die Erfahrung widerlegt, dass Böse in Saus und Braus leben, Gute aber darben müssen. Das biblische Buch „Ijob“ protestiert gegen diese Einstellung. Der gerechte Ijob erfährt furchtbares Leid und wird auf Herz und Nieren geprüft, ob er allem zum Trotz auf Gott vertraut. Diese Prüfung besteht er nicht zuletzt dank einer überwältigenden Gotteserfahrung, die ihm aber auch nicht den tieferen Sinn seines Leidens erklärt.

Im Vierten Lied von Gottesknecht (Jes 52,13-53,12) findet sich der Gedanke der Stellvertretung, der für viele Leidende zum Trost geworden ist. Das Lied besingt den Gottesknecht, der für die Schuldigen eintritt: „Er wurde durchbohrt wegen unserer Verbrechen, wegen unserer Sünden zermalmt. Zu unserem Heil lag die Strafe auf ihm, durch seine Wunden sind wir geheilt“ (Jes 53,5). Im Blick auf das Leiden Christi hat die christliche Urgemeinde bekannt: „Christus ist für unsere Sünden gestorben.“ Dieser Gedanke wird ausgeweitet in dem Gedanken vom mitleidenden Gott. In einer autobiographischen Erzählung schreibt Elie Wiesel:

„Als wir eines Tages von der Arbeit zurückkamen, sahen wir auf dem Appellplatz drei Galgen. Antreten. Ringsum die SS mit drohenden Maschinenpistolen, die übliche Zeremonie. Drei gefesselte Todeskandidaten, darunter der kleine Pipel, der Engel mit den traurigen Augen. Die SS schien besorgter, beunruhigter als gewöhnlich. Ein Kind vor Tausenden von Zuschauern zu hängen, war keine Kleinigkeit. Der Lagerchef verlas das Urteil. Alle Augen waren auf das Kind gerichtet. Es war aschfahl, aber fast ruhig und biß sich auf die Lippen. Der Schatten des Galgens bedeckte es ganz. Diesmal weigerte sich der Lagerkapo, als Henker zu dienen. Drei SS-Männer traten an seine Stelle. Die drei Verurteilten stiegen zusammen auf ihre Stühle. Drei Hälse wurden zu gleicher Zeit in die Schlingen eingeführt. ‚Es lebe die Freiheit!’ riefen die beiden Erwachsenen. Das Kind schwieg. ‚Wo ist Gott, wo ist er?’ fragte jemand hinter mir. Auf ein Zeichen des Lagerchefs kippten die Stühle um. Absolutes Schweigen herrschte im ganzen Lager. Am Horizont ging die Sonne unter. ‚Mützen ab!’ brüllte der Lagerchef. Seine Stimme klang heiser. Wir weinten. ‚Mützen auf!’ Dann begann der Vorbeimarsch. Die beiden Erwachsenen lebten nicht mehr. Ihre geschwollenen Zungen hingen bläulich heraus. Aber dritte Strick hing nicht reglos: der leichte Knabe lebte noch … Mehr als eine halbe Stunde hing er so und kämpfte vor unseren Augen zwischen Leben und Sterben seinen Todeskampf. Und wir mussten ihm ins Gesicht sehen. Er lebte noch, als ich an ihm vorüberschritt. Seine Zunge war noch rot, seine Augen noch nicht erloschen. Hinter mir hörte ich denselben Mann fragen: ‚Wo ist Gott?’ Und ich hörte eine Stimme in mir antworten: ‚Wo ist er? Dort – dort hängt er, am Galgen.’“

Die Antwort, die diese Erzählung gibt, lautet: Gott gibt keine Erklärung für das Leid in der Welt, sondern er ist bereit, es selbst zu tragen. Er ist nicht ein teilnahmsloser Gott, der sich vom Leiden der Menschen nicht anrühren lässt. Diese Antwort legt sich vom Leben, Leiden und Sterben Jesu her nahe. Jesus ist solidarisch mit allen Leidenden, ebenso auch mit allen schuldig Gewordenen. Er hängt am Kreuz zwischen zwei Verbrechern. Der Gedanke, dass Gott das Leid mit trägt, kann für den, dem Andere Leid zufügen, vielleicht noch eine Hilfe sein, weil Gott die Freiheit der Menschen nicht aufhebt, auch wenn sie einander schreckliches Leid zufügen. Aber warum behebt er das Leid nicht, das er, ohne die Freiheit des Menschen aufzuheben, beseitigen könnte?

Alle Erklärungsversuche enden in neuen Fragen. Für den Glaubenden erschließt sich im Bekenntnis zur Hoffnung ein Weg, das Leiden zu bestehen, ohne es gänzlich zu verstehen: Wir leben auf Hoffnung hin. In der Offenbarung des Johannes heißt es: „Er wird alle Tränen von ihren Augen abwischen: der Tod wird nicht mehr sein, keine Trauer, keine Klage, keine Mühsal. Denn was früher war, ist vergangen.“ (Offb 21,4) Diese Hoffnung stützt sich auf die Praxis Jesu, der Menschen geheilt hat und darin ein Zeichen für das Anbrechen des Reiches Gottes setzte. Er hat nicht alle geheilt, aber in den Heilungen einzelner sollte zum Vorschein kommen, was Gott mit dieser Welt vor hat, eben dass er einmal alles Leid und alle Krankheiten überwinden wird. Darin zeigt sich die Herrschaft Gottes. Er wird eingreifen und alles Leid beenden bzw. verwandeln. Das Leiden ist also zeitlich begrenzt. Es ist nicht grenzenlos. Paulus schreibt im Römerbrief sogar: „Ich bin überzeugt, dass die Leiden der gegenwärtigen Zeit nichts bedeuten im Vergleich zu der Herrlichkeit, die an uns offenbar werden soll.“ (Röm 8,18) Paulus hatte ein großes Maß an Leiden zu tragen. Er fährt im Römerbrief fort: „Die ganze Schöpfung wartet sehnsüchtig auf das Offenbarwerden der Söhne Gottes. Die Schöpfung ist der Vergänglichkeit unterworfen, nicht aus eigenem Willen, sondern durch den, der sie unterworfen hat; aber zugleich gab er ihr Hoffnung. Auch die Schöpfung soll von der Sklaverei und Verlorenheit befreit werden zur Freiheit und Herrlichkeit der Kinder Gottes. Denn wir wissen, dass die gesamte Schöpfung bis zum heutigen Tag seufzt und in Geburtswehen liegt“ (Röm 8,19-22). Die Welt ist noch nicht so, wie Gott sie gedacht hat. Aber die neue Welt ist im Kommen.

Auch hier stellen sich Fragen: Warum hat Gott eine so leidvolle Welt geschaffen? Warum so schreckliche und so lange Leiden mancher Menschen? Die Hoffnung, dass Gott das Leid beenden und verwandeln wird, ist schon ein Trost, aber eben jetzt noch keine befriedigende Antwort. Ich verbinde mit dieser Verheißung allerdings auch die Erwartung, dass Gott nicht nur das Leid beenden wird, sondern dass er auch Antwort geben wird auf die Fragen der Menschen nach dem Warum des Leidens.

Die Suche nach der Antwort auf die Frage nach dem Warum des Leidens lässt uns die Chance und den Segen des Leidens in großartigen Persönlichkeiten wie der seligen Rosa Flesch bereits erahnen. Leiden kann zu der Erfahrung führen, dass es eine Macht gibt, die alles Leiden bestehen lässt: die Macht der demütigen Liebe. Was André Gide von den Krankheiten gesagt hat, gilt für das Leid insgesamt: Es ist ein Schlüssel zu Erkenntnissen, die dem verborgen bleiben, der nie Leid zu ertragen brauchte.

Aber es gibt Leiden, das so schrecklich und furchtbar ist, dass der Gedanke, darin könnte ein Sinn liegen, einem schon als Frevel erscheint. Hier bleibt nur die Klage als die einzig adäquate Antwort auf das Übermaß an Leiden. In seiner Rede in Auschwitz sagte Papst Benedikt XVI: „Wir können in Gottes Geheimnis nicht hineinblicken – wir sehen nur Fragmente und vergreifen uns, wenn wir uns zum Richter über Gott und die Geschichte machen wollen. Dann würden wir nicht den Menschen verteidigen, sondern zu seiner Zerstörung beitragen. Nein – im Letzten müssen wir bei dem demütigen, aber eindringlichen Schrei zu Gott bleiben: Wach auf! Vergiss dein Geschöpf Mensch nicht!“ Die Frage nach Auschwitz heißt nicht nur: „Wo war Gott in Auschwitz? Sie heißt auch: Wo war der Mensch in Auschwitz?“ So J. B. Metz. Sicher es gab die Menschen, großartige Menschen in Auschwitz. Aber es bleibt auch die Frage: Wie konnte so etwas geschehen? Ist das nicht ein Grund, statt an Gott eher am Menschen zu verzweifeln? Aber es gab und gibt Menschen, die mitten im Feuer des Leidens nicht verzweifelten, sondern in einer geradezu übermenschlichen Größe und Würde eigenes Leid getragen und das Leid anderer gelindert haben. Diese Menschen bezeugen, dass nicht Bosheit und Brutalität das letzte Wort haben, sondern die Macht der demütigen Liebe, die uns hoffen lässt, einmal die Antwort zu finden auf die Frage nach dem „Warum“.

Leiden soll nicht nur in der Klage Ausdruck finden oder Protest provozieren, sondern eine neue Praxis der Solidarität und der Bereitschaft, die Ursachen des Leides zu beheben, begründen. Eine solche Praxis kann ihre Durchhaltekraft aus der Hoffnung beziehen, dass sie nicht umsonst ist, weil Gott sich dafür verbürgt, dass er seine Schöpfung vollenden wird.

[alg_back_button]