Die Zukunft der Religion in der Leistungs- und Erlebnisgesellschaft – Pfarrer Ralf-Dieter Gregorius
Pfarrer Ralf-Dieter Gregorius – evangelische Pfarrgemeinde Karthause

Die Fastenbesinnung wurde erstmalig im Leseverein von einem evangelischen Geistlichen durchgeführt. Pfarrer Ralf-Dieter Gregorius von der evangelischen Pfarrgemeinde Karthause referierte über die Zukunft der Religion in der Leistungs-und Erlebnisgesellschaft.

Die Kirchen schwächeln – Religion boomt. Pfarrer Gregorius sprach über die Chancen, die sich dem christlichen Glauben trotz des Verfalls der traditionellen Kirchlichkeit bieten.
Ins Auge sticht zunächst der Boom der Religion: Nach dem Ende politisch-ideologischen Massenbewegungen kommt die Stunde der Religion in dämonischer Gestalt: gewalttätiger Islamismus, christlich verbrämter Nationalismus in Amerika und Russland, erzkonservative Strömungen in den Konfessionskirchen. Wer genauer hinschaut entdeckt aber auch echte Religion in ursprünglicher Gestalt.
Hier stellt sich die Frage nach dem Glauben nicht so sehr als Frage nach der Zugehörigkeit zu einer Institution, sondern als Frage nach dem persönlich gewählten und erneuerten Glauben. Einige Jahrzehnte führte die Suche nach religiösen Erfahrungen überall hin nur nicht in die traditionelle christliche Religion.
Heute kann Vieles, was früher als Pflichtprogramm der kirchlichen Tradition gepflegt wurde, wieder überzeugen und berühren, freilich nur wenn es Qualität hat, wenn es als „echt“ empfunden wird und tatsächlich zu eigenen, persönlichen religiösen Erfahrungen hilft. Persönliche Begegnungen sind wichtig.
Gebraucht werden Geistliche, die ansprechbar und befragbar sind und sich im öffentlichen Raum, jenseits kirchlicher Bezirke bewegen können. Das überfordert viele.
Der Grund liegt nicht nur im Zeitmangel. Die überzogenen Leistungserwartungen und die kommerzialisierte Erlebniskultur („Events“) der westlichen Gesellschaften schaffen eine neue Sehnsucht nach Entschleunigung, Einkehr und tragenden Ritualen. Das religiöse Instrumentarium des christlichen Glaubens passt perfekt zu unserer optisch verfassten Kultur. Da geht es nicht nur um Texte, sondern auch Wasser, Wein, Öl, Kerzen, Weihrauch, um Räume, Symbole, Rituale, Licht, Gesten, und Bilder.
Nachkonziliare Abrissbirnen haben nicht nur Überholtes beseitigt, sondern auch Wertvolles zerstört.
Wo Gemeinden sich zu unbedingter Schlichtheit und reiner Wortorientierung verpflichtet sehen, trocknet Religion aus. Zugang zu persönlichen Glaubenserfahrungen bietet heute kaum mehr die Zugehörigkeit zu einer konfessionellen Tradition („ich bin halt so erzogen“), auch nicht die intellektuelle Einsicht in die Wahrheit des Glaubens (Katechismus, Predigt und Unterricht).
Heute führt der Weg zunächst über das Herz und den Leib, über sinnliche Erfahrungen und dann hin zum Geist und zum Verstand. Ob die Pfarrgemeinden noch einmal Dreh- und Angelpunkt der religiösen Praxis sein können, ist fraglich.
Sie erweisen sich derzeit leider oft als ungeeignet für eine Erneuerung des persönlichen Glaubens.
Viele Menschen finden Zugang über gelungene Begegnungen im Bereich Raum – Ritual – Gebet – Segen – Musik, oft jenseits der sozialen Kontrolle der Wohnortgemeinde.
Wo der Zugang in der Weise gelungen ist, wird dann auch alles andere wieder interessant, sogar die eigene Kirche und Gemeinde. Schon lange war die Offenheit vieler Menschen für den christlichen Glauben nicht mehr so groß.
Die unterschwellige Erneuerung des konfessionellen Gegensatzes bei vielen jüngeren „Funktionären“ der Konfessionskirchen ist eine Gefahr für den Glauben der kommenden Generationen und schafft ein binnenkonfessionelles Inzuchtklima.
Die katholische Kirche lebt seit dem Konzil nicht mehr nur von ihrer eigenen Substanz, sondern auch von dem, was im Garten des reformatorischen Christentums gewachsen ist.
Und die evangelische Kirche kann nicht bestehen, ohne ihr vorreformatorisches Erbe. Vorwärts geht es nur zusammen, nicht getrennt.
Der nächste Schritt auf dem Weg zur Einheit wäre, dass sich die katholische Kirche endlich durchringt, ALLE Getauften zur Eucharistie einzuladen.
Nicht nur von Fall zu Fall ausnahmsweise, sondern grundsätzlich und endgültig.

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